An diesem Morgen im späten Oktober bin ich beschwingt mit der Straßenbahn in die Innenstadt gefahren. Teure Lage, Marmor an der Fassade. Vor dem Haus ein Bettler. Ich gebe ihm einige Münzen. Lächle ihn an. Als ob man sich freikaufen könnte, denke ich noch. In der Rückschau ist an diesem Vormittag alles mit Bedeutung aufgeladen. Ich freue mich. Gleich werde ich mein Kind sehen. Hochauflösendes Babykino. Man wird mir sagen, dass alles bestens aussieht. Hinterher werde ich in Ruhe den sonnigen Herbsttag vertrödeln. Dass hinterher alles anders sein wird, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Wir gucken also zu dritt in meinen Bauch und die beiden Frauen schauen sich prüfend an. Sagen nichts, während ich im Dunklen liege. Du hast immer noch Schluckauf, als die Ärztin ein zweites Mal mit dem Cursor die kleinen Kreuze in deinem Nacken setzt. Noch einmal misst. 3.5 mm. Mir wird schwindelig. Vor der Nackenfaltenmessung habe ich mich informiert. Ich weiß, die Zahl ist auffällig. Alles bis 2.5 mm wäre im grünen Bereich. Alles was drüber ist, erhöht in Kombination mit meinem Alter die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kind, dass du, eine Behinderung, einen Herzfehler, das Down Syndrom ach, wer weiß was noch alles haben wirst.
„Das sieht nicht gut aus“, bestätigt die Schöne meine Befürchtung. „Sie bekommen das gleich nochmal schriftlich.“ Auf dem Zettel rät man mir, nun bald eine Fruchtwasseruntersuchung machen zu lassen. Um sicher zu gehen. Plötzlich bin ich mitten drin im Strudel der vorgeburtlichen Untersuchungen. Und erst jetzt erahne ich die ganze Dimension dieser akribischen, sehr selbstverständlichen Suche nach Behinderung. Aus dem bunten Babykino ist schlagartig ein Thriller um Leben und Tod geworden. Schlagartig müssen wir Entscheidungen von unerträglicher Tragweite treffen.
Es folgen Tage, Wochen voller Angst und Ungewissheit. Wir lesen im Internet, versuchen uns zu informieren. Genetische Beratungsstelle, Hebamme mit Zusatzqualifikation, enge Freunde. Doch am Ende bleiben nur die Zahlen.
Bei der Nackenfaltenmessung, einem wichtigen Bestandteil im wachsenden Angebot der Pränatalmedizin wird in der 13. bis 15. Schwangerschaftswoche anhand einer Flüssigkeitsblase im Nacken eines Ungeborenen ein statistischer Wert ermittel. Zusammen mit einer Blutuntersuchung und dem Alter der Mutter ergibt sich aus der Dicke der Wasserblase eine Wahrscheinlichkeit. Ein statistischer Wert. Die Wahrscheinlichkeit, dass unser Kind das Down Syndrom haben wird beträgt 1: 48. Normal wären in meinen Alter hohe dreistellige Werte. Um Sicherheit zu bekommen werden im Normalfall weitere Untersuchungen angeboten. Doch sowohl Fruchtwasseruntersuchung als auch eine Entnehme von Gewebe aus der Plazenta sind für das Ungeborene nicht ohne Risiko. Was ist, wenn Gentests ergeben, dass das Kind gesund ist und wir es dennoch wegen des Eingriffs verlieren. Wie weiter, wenn klar wird, dass das Kind eine Behinderung haben wird.
Ist der Mensch schlauer als die Natur? Schlauer als Gott? Wie viel darf eine Schwangere über ihr ungeborenes Kind wissen? Noch nie hatten Menschen mit Down-Syndrom so große Entwicklungschancen wie heute, und noch nie war es für sie so schwer, überhaupt das Licht der Welt zu erblicken.
Schon bald wirst du deine Augen öffnen, Schlucken und Atmen üben, fühlen. Ab der 24. Schwangerschaftswoche könntest du mit viel Hilfe von Ärzten, auch außerhalb des Mutterleibes überleben. Eine Abtreibung aus medizinischen Gründen – und in diesem Fall wäre mein psychisches Wohl ein medizinischer Grund – ist bis zum Ende der Schwangerschaft möglich.
Was ist eine Mutter. Wozu ist sie da? Frage ich mich immer wieder. Und denke daran, wie dein kleiner Bauch beim Schluckauf hopst. Ich bin dazu da dieses Kind zu beschützen. Ich will nicht, dass jemand in meinen Bauch, deine sichere Höhle bohrt um nachzusehen, ob alles okay oder alles ganz schlimm ist. Ich will mich wieder auf dich freuen. Ohne diese bohrende Angst davor, was wird. Wir entscheiden uns gegen eine Fruchtwasseruntersuchung, obwohl mehrere Gynäkologen dazu raten. Ihr Tenor: Sie haben den ersten Schritt getan, nun folgen eben weitere Diagnostikschritte. Dass aber auch bei der Fruchtwasseruntersuchung Gefahren für das Ungeborene bestehen, zählt nicht. Der Eingriff wird wiederum mit Statistik gerechtfertigt.
Dieses Jonglieren mit Etwaigkeiten, Chancen, Risiken, Zahlen zieht mir den Stecker. Ich will was Handfestes. Und wenn es ein behindertes Kind ist. Grenzenlose Erleichterung, dass auch dein Papa dich so will, wie Du bist. „ Er wird lachen und weinen – um mehr geht es nicht“, sagt er und damit platzt der Knoten. Keine Untersuchung mehr. Nur noch Vertrauen drauf, dass alles gut werden wird. „Hab Vertrauen“ unser neues Mantra. Und noch fünf Monate Ungewissheit.
Es garantiert dir auch ja auch niemand, dass er kein Arschloch wird. Oder ein Neonazi. Oder mit 12 vom Bus überfahren und für immer ein Pflegefall. Ungefähr da bin ich gedanklich gegen Ende der Schwangerschaft. Wenn Kinder es erst mal auf die Welt geschafft haben, ist es keine Frage mehr, ob wir sie dann noch haben wollen oder sie lieber los wären.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Selbstbestimmung alles ist. Aber auch in einer Gesellschaft, die sich anders sein nicht mehr leisten will. Weil sie vorher aussortieren kann, tut sie es.
Im Mai 2013 wird unser Sohn geboren. Er ist vollkommen gesund.
Glück: Wie deine kleinen warmen trockenen Hände in meinem Gesicht tasten.